Tarifbindung, Deutschland

Tarifbindung: Deutschland unter Zugzwang nach EuGH-Urteil

17.11.2025 - 23:40:11

Berlin steht unter Druck: Die Gewerkschaften fordern von der Bundesregierung einen ambitionierten Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung – und zwar bis Jahresende. Was steckt dahinter?

Das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. November hat die Debatte neu entfacht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) feierte die Entscheidung als „Sieg für das soziale Europa” und erhöht nun den Druck auf die Politik. Denn die Zahlen sind alarmierend: Nur noch 49 Prozent der deutschen Arbeitnehmer fallen unter einen Tarifvertrag – ein dramatischer Rückgang gegenüber früheren Jahrzehnten. Die EU-Mindestlohnrichtlinie verpflichtet Deutschland nun zum Handeln.

Der Gerichtshof brachte Klarheit in eine komplexe Rechtsfrage. Zwar kassierte er technische Kriterien zur Festlegung von Mindestlöhnen, doch das Kernstück der Richtlinie blieb unangetastet: Länder mit einer Tarifbindungsquote unter 80 Prozent müssen einen konkreten Fahrplan zur Förderung von Tarifverhandlungen vorlegen. Deutschland fällt mit seinen 49 Prozent eindeutig in diese Kategorie.

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Die Klage Dänemarks gegen die EU-Kompetenzen in der nationalen Lohnpolitik war damit weitgehend gescheitert. Für die Bundesregierung bedeutet das: Bis zum 31. Dezember 2025 muss ein Aktionsplan bei der EU-Kommission eingereicht werden. Keine Option mehr, sondern Pflicht.

Bundestariftreuegesetz als Herzstück

Was wird der Aktionsplan enthalten? Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) arbeitet bereits seit dem Sommer an den Details, in Abstimmung mit Gewerkschaften und Arbeitgebern. Im Zentrum der gewerkschaftlichen Forderungen steht das geplante Bundestariftreuegesetz (BTTG), das bereits im August vom Kabinett verabschiedet wurde.

Die Idee dahinter ist simpel, aber wirkungsvoll: Öffentliche Aufträge des Bundes – 2023 waren das fast 39 Milliarden Euro – sollen künftig nur noch an Unternehmen gehen, die sich an die branchenüblichen Tarifverträge halten. Kein öffentliches Geld mehr für Lohndumping, so die Botschaft. Arbeitsministerin Bärbel Bas argumentiert, dies schaffe endlich fairen Wettbewerb und verhindere, dass tarifgebundene Betriebe bei Ausschreibungen das Nachsehen haben.

Zusätzlich fordern Gewerkschaften neue digitale Zugangsrechte zu Betrieben – schließlich erreicht man Beschäftigte im Homeoffice nicht mehr so einfach am Werkstor.

Sozialpartner auf Konfrontationskurs

Die Reaktionen auf das EuGH-Urteil könnten unterschiedlicher kaum ausfallen. Während der DGB von einem „Meilenstein für Arbeitnehmerrechte und europäischen Zusammenhalt” spricht, zeigen sich die Arbeitgeber alarmiert. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) kritisierte die Entscheidung scharf als „übergriffiges Urteil” und forderte die Bundesregierung auf, „weitere EU-Eingriffe in die Sozialpolitik aktiv abzuwehren”.

Hier prallen Welten aufeinander: Gewerkschaften sehen in der EU-Richtlinie einen notwendigen Schutzschirm gegen sinkende Arbeitsstandards. Arbeitgeber hingegen wittern Bürokratie und einen Angriff auf nationale Autonomie. Der Sozialverband VdK schlug sich erwartungsgemäß auf die Seite der Arbeitnehmer und mahnte die Regierung zu raschem Handeln für „bessere Löhne und Arbeitsbedingungen”.

Der lange Abstieg der Tarifbindung

Wie konnte es so weit kommen? Noch vor wenigen Jahrzehnten waren drei von vier Beschäftigten in Deutschland tariflich abgesichert. Heute ist es weniger als jeder Zweite. Diese Erosion hat weitreichende Folgen: wachsende Lohnungleichheit, zunehmender Wettbewerb über niedrige Arbeitskosten, prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Das geplante Tariftreuegesetz soll genau hier ansetzen. Indem es die Vergabe öffentlicher Aufträge an Tarifbindung koppelt, soll der Wettbewerbsvorteil nicht-tarifgebundener Firmen bei Ausschreibungen verschwinden. Die Hoffnung: ein Dominoeffekt, der die Tarifbindung insgesamt stärkt.

Countdown läuft: Was kommt jetzt?

Die nächsten Wochen werden entscheidend. Bis zum Jahresende muss der Aktionsplan in Brüssel vorliegen – sein Inhalt wird von Gewerkschaften und Arbeitgebern mit Argusaugen geprüft werden. Anschließend steht die parlamentarische Hürde an: Das Bundestariftreuegesetz muss durch den Bundestag, voraussichtlich noch vor Ende 2025.

Gelingt die Umsetzung, könnte dies eine Zeitenwende für die deutschen Arbeitsbeziehungen bedeuten. Nach Jahrzehnten des Rückgangs könnte die Tarifbindung wieder gestärkt werden – ein Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, der ins Wanken geraten war. Ob der Plan aufgeht? Die kommenden Monate werden zeigen, wie ernst es der Politik mit der Trendwende ist.

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