EU startet digitale Zeitenwende mit Souveränitäts-Offensive
19.11.2025 - 17:29:12Die Europäische Union schlägt einen entscheidenden Weg ein, um sich digital unabhängiger zu machen. Mit einem umfassenden Reformpaket und einer deutsch-französischen Allianz will Brüssel die Abhängigkeit von amerikanischen und chinesischen Tech-Giganten durchbrechen. Das Ziel: Europa soll zum souveränen digitalen Kontinent werden – mit eigenen Regeln und eigener Infrastruktur.
Am 18. und 19. November 2025 präsentierte die EU eine koordinierte Strategie, die es in dieser Form noch nicht gab. Während die Kommission Unternehmen mit weniger Bürokratie lockt, zimmern Deutschland und Frankreich am politischen Fundament für eine europäische Cloud-Infrastruktur. Die Botschaft ist klar: Wachstum ja, aber nicht um jeden Preis – und schon gar nicht unter Kontrolle ausländischer Mächte.
Das sogenannte “Digital Omnibus”-Paket der Kommission verspricht radikal weniger Regulierungschaos. Vier separate Datenschutzgesetze werden zu einem einzigen Data Act verschmolzen – ein Schritt, der Rechtsklarheit schaffen und kleinen Unternehmen das Leben erleichtern soll. Besonders bemerkenswert: Für kleinere Betriebe gibt es gezielte Ausnahmen bei den Cloud-Wechsel-Regeln.
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Die European Business Wallets könnten zum Game-Changer werden. Mit dieser digitalen Identität für Unternehmen sollen Papierkram und grenzüberschreitende Hürden der Vergangenheit angehören. Die Kommission rechnet mit jährlichen Einsparungen von bis zu 150 Milliarden Euro für die europäische Wirtschaft – eine beeindruckende Zahl, die zeigt, wie teuer die bisherige Fragmentierung tatsächlich war.
Auch die DSGVO bekommt gezielte Nachbesserungen: Innovation soll gefördert werden, ohne dass der Datenschutz darunter leidet. Die allgegenwärtigen Cookie-Banner? Sollen endlich seltener werden. Für den AI Act plant Brüssel eine Zentralisierung der Aufsicht beim AI Office und will Experimentierräume für Innovation ausweiten.
Deutschland und Frankreich brechen jahrelanges Schweigen
Was lange als unmöglich galt, wurde auf dem Digitalgipfel in Berlin Realität: Bundeskanzler Friedrich Merz stellte sich hinter Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dessen Forderung nach einer EU-weiten Definition der “souveränen Cloud”. Die beiden größten EU-Volkswirtschaften wollen künftig europäische Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugen – ein direkter Schlag gegen US-Hyperscaler wie Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google Cloud.
Diese Kehrtwende kommt nicht aus heiterem Himmel. Nach Jahren des Stillstands signalisiert die deutsch-französische Achse nun eindeutigen politischen Willen: Europa braucht einen geschützten Markt für seine digitale Infrastruktur. Berlin und Paris werden die Kommission offiziell auffordern, einen Gesetzesvorschlag zu entwickeln, der europäische Daten vor extraterritorialen Gesetzen schützt – etwa dem US CLOUD Act, der amerikanischen Behörden Zugriff auf Daten gewährt, egal wo sie gespeichert sind.
Die französische und deutsche Cybersicherheitsbehörde haben bereits am Montag zugesagt, gemeinsam an einem EU-Bewertungssystem für Cloud-Souveränität zu arbeiten. Damit entsteht erstmals ein konkreter Rahmen dafür, was einen vertrauenswürdigen, souveränen Dienst ausmacht.
Der Markt dreht sich bereits – aus Angst und Einsicht
Die Politik mag den Ton vorgeben, doch der Markt reagiert schon längst. Eine aktuelle Gartner-Umfrage zeigt: 61 Prozent der CIOs und IT-Verantwortlichen in Westeuropa planen, verstärkt auf lokale oder regionale Cloud-Anbieter zu setzen. Das Analysehaus prognostiziert, dass bis 2030 über drei Viertel aller europäischen Organisationen ihre virtuellen Workloads “geopatriieren” werden – ein Kunstwort für die Rückholung von Daten auf europäische Server.
Warum dieser Sinneswandel? Die geopolitischen Spannungen der letzten Jahre haben viele Unternehmen aufgeschreckt. Die Abhängigkeit von US-Anbietern wird zunehmend als strategisches Risiko wahrgenommen – nicht nur wegen Datenschutzbedenken, sondern auch wegen der Gefahr, dass Regierungen in Washington oder Peking über Nacht den digitalen Wasserhahn zudrehen könnten.
Untermauert wird diese Entwicklung durch die Gründung des European Network for Technological Resilience and Sovereignty (ETRS) am 17. November. Führende Think Tanks wie die Bertelsmann Stiftung und das Centre for European Policy Studies haben sich zusammengeschlossen, um Forschung und Politik zu verzahnen. Ihr Fokus: kritische Technologien wie KI, Cloud-Infrastruktur und Halbleiter – Bereiche, in denen Europa derzeit über 80 Prozent seiner Bedürfnisse aus den USA und China deckt.
Zwei Zangen, ein Ziel: Die digitale Festung Europa
Was auf den ersten Blick wie zwei getrennte Initiativen aussieht, ergibt bei näherer Betrachtung ein schlüssiges Gesamtbild. Das “Digital Omnibus” wirkt als Katalysator nach innen: Weniger Bürokratie soll europäische Tech-Unternehmen wettbewerbsfähiger machen. Die deutsch-französische Allianz baut parallel dazu die “digitale Festung” von außen: Souveränitätsstandards und bevorzugte öffentliche Beschaffung sollen einen geschützten Heimatmarkt schaffen.
Diese Strategie ist eine direkte Antwort auf Europas prekäre Abhängigkeit. Die Dominanz amerikanischer Hyperscaler hat nicht nur Datenschutzfragen aufgeworfen, sondern auch strategische Verwundbarkeit offenbart. Indem die EU ihre eigenen Regeln vereinfacht und gleichzeitig definiert, was “souverän” bedeutet, versucht sie, den Markt neu zu justieren – nach europäischen Werten und Gesetzen.
Kann das funktionieren? Die Skepsis ist berechtigt. Europäische Cloud-Anbieter wie OVHcloud oder die deutsche Ionos hinken technologisch hinterher. Ob politischer Rückenwind und Vereinfachungen ausreichen, um den Abstand zu AWS und Co. aufzuholen, bleibt fraglich. Doch die Stoßrichtung ist unmissverständlich: Europa will nicht länger digitale Kolonie sein.
Was jetzt kommt: Vom Wort zur Tat
Das “Digital Omnibus”-Paket durchläuft nun das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Parlament und Rat werden debattieren, Änderungen vornehmen – doch die Richtung ist gesetzt. Die politische Dynamik aus Berlin dürfte sich in konkreten Gesetzen niederschlagen, vermutlich bereits im ersten Quartal 2026 mit dem Cloud and AI Development Act (CAIDA).
Unternehmen und öffentliche Einrichtungen sollten sich auf neue Beschaffungsrichtlinien einstellen, die souveräne Cloud-Lösungen bevorzugen. Strengere Anforderungen an Datenresidenz und Schutz vor ausländischem Rechtszugriff werden folgen. Projekte wie das IPCEI-CIS zur Schaffung eines föderierten Cloud-Edge-Kontinuums dürften zusätzlichen Schub erhalten.
Die Botschaft aus Brüssel ist eindeutig: Digitale Transformation und Datensouveränität sind künftig untrennbar miteinander verbunden. Wer in Europa Geschäfte machen will, muss sich auf diese neue Realität einstellen – eine Realität, in der europäische Werte nicht verhandelbar sind.
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