BAG-Urteil, Mehrstunde

BAG-Urteil: Überstundenzuschläge ab erster Mehrstunde für Teilzeit

27.11.2025 - 04:49:12

Das Bundesarbeitsgericht hat gestern eine Grundsatzentscheidung gefällt: Tarifverträge, die Überstundenzuschläge erst ab Vollzeit-Schwellenwerten vorsehen, verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot. Millionen Teilzeitbeschäftigte erhalten damit sofort Anspruch auf anteilige Zuschläge – ohne Übergangsfrist.

Die Erfurter Richter stellten unmissverständlich klar: Wer in Teilzeit arbeitet und seine vertraglich vereinbarten Stunden überschreitet, muss genauso behandelt werden wie Vollzeitbeschäftigte bei deren Mehrarbeit. Die bisherige Praxis, Zuschläge erst ab der 40. oder 41. Wochenstunde zu zahlen – unabhängig vom individuellen Teilzeitumfang – ist ab sofort rechtswidrig.

Die Entscheidung (Az. 5 AZR 118/23 und 5 AZR 155/22) beendet eine jahrzehntelange Ungleichbehandlung. Besonders betroffen sind Branchen wie Einzelhandel, Logistik und Gesundheitswesen, wo Teilzeitmodelle dominieren.

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Im verhandelten Fall klagte ein Lagerarbeiter aus dem bayerischen Groß- und Außenhandel. Sein Vertrag sah 30,8 Wochenstunden vor, während der Manteltarifvertrag Vollzeit mit 38,5 Stunden definierte. Zuschläge? Gab es laut Tarifvertrag erst ab der 41. Stunde.

Das bedeutete konkret: Zwischen Stunde 31 und 40 arbeitete der Kläger zum regulären Stundenlohn weiter – seine vollzeitbeschäftigten Kollegen kassierten bereits Zuschläge. Diese Ungleichbehandlung verstößt laut BAG gegen § 4 Absatz 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG).

Arbeitgeber hatten jahrelang argumentiert, Überstundenzuschläge kompensierten die besondere Belastung durch exzessiv lange Arbeitszeiten – typischerweise über 40 Wochenstunden. Ein Teilzeitmitarbeiter mit 35 Stunden sei dieser “Schwerstbelastung” nicht ausgesetzt und verdiene daher keine Härtezulage.

Das Gericht wischte diese Begründung vom Tisch. Die Belastung beginne für Teilzeitkräfte genau dort, wo ihre vertraglichen Stunden enden – nicht erst bei irgendeiner pauschalen Vollzeit-Grenze. Alles andere entwertet Flexibilität und Mehrleistung.

Sofortige Wirkung: Tarifparteien gehen leer aus

Besonders brisant: Das BAG verweigerte den Tarifvertragsparteien jegliche Schonfrist zur Nachbesserung.

Normalerweise räumen Gerichte bei fehlerhaften Tarifregelungen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Zeit ein, konforme Alternativen auszuhandeln. Nicht diesmal. Bei Verstößen gegen das EU-rechtlich verankerte Diskriminierungsverbot gibt es “keine vorrangige Korrekturkompetenz” der Tarifparteien, so die Richter.

Die Konsequenz tritt unmittelbar ein: Die diskriminierende Schwellenregelung wird automatisch durch eine anteilige Berechnung ersetzt. Teilzeitbeschäftigte müssen nicht auf neue Tarifverhandlungen warten – ihr Anspruch auf Zuschläge existiert jetzt, basierend auf dem bestehenden Vertrag unter Berücksichtigung des Diskriminierungsverbots.

Verdi jubiliert: “Gute Nachricht für Millionen Frauen”

Die Gewerkschaft ver.di begrüßte das Urteil umgehend. “Diese Entscheidung ist eine gute Nachricht für Teilzeitbeschäftigte und vor allem für Millionen Frauen”, erklärte Silke Zimmer aus dem ver.di-Bundesvorstand. Allein im Einzelhandel arbeiten rund 64 Prozent der drei Millionen Beschäftigten in Teilzeit – überwiegend Frauen.

Arbeitsrechtsexperten zufolge müssen Unternehmen ihre Lohnabrechnungssysteme sofort anpassen. “Arbeitgeber können sich nicht länger auf die statische 40-Stunden-Grenze verlassen”, kommentierte ein Fachanwalt. “Jede Stunde über dem individuellen Teilzeitvertrag muss denselben Zuschlagsprozentsatz auslösen wie bei Vollzeitbeschäftigten.”

Das BAG verwies den konkreten Fall zur tatsächlichen Stundenberechnung zurück ans Landesarbeitsgericht Nürnberg. Das Rechtsprinzip steht jedoch felsenfest.

Droht eine Klagewelle wegen Nachzahlungen?

Die Klarheit des Urteils könnte eine Welle rückwirkender Forderungen auslösen. Da das Gericht einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot feststellte, dürften betroffene Beschäftigte Anspruch auf nicht gezahlte Zuschläge für vergangene Zeiträume haben – soweit Ausschlussfristen dies zulassen.

Für Personalabteilungen beginnt jetzt die Inventur:

  1. Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen auf “Vollzeit-Schwellenwert”-Klauseln prüfen
  2. Überstundenvergütung für Teilzeitkräfte neu berechnen – Zuschläge müssen ab der ersten Mehrarbeitsstunde greifen
  3. Mitarbeiteranfragen zu vergangenen Überstundenabrechnungen vorbereiten

Das Urteil bringt die deutsche Rechtsprechung in Einklang mit jüngeren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die Botschaft ist eindeutig: Teilzeitarbeit darf im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigung nicht finanziell bestraft werden.

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