AudioEye-Report, Web-Barrierefreiheit

AudioEye-Report: Web-Barrierefreiheit kollabiert dramatisch

27.11.2025 - 23:03:12

Neue Analyse offenbart durchschnittlich 297 Barrieren pro Website - ein Anstieg um das Achtfache seit 2023. US-Klagen signalisieren juristische Risiken für europäische Unternehmen nach Inkrafttreten des European Accessibility Act.

Die digitale Kluft wird größer statt kleiner. Fünf Monate nach Inkrafttreten des European Accessibility Act (EAA) im Juni 2025 offenbart ein neuer Branchenbericht ein erschreckendes Ausmaß unentdeckter Zugangshürden im Netz. Gleichzeitig häufen sich in den USA milliardenschwere Sammelklagen gegen Unternehmen – ein Warnschuss für den europäischen Markt?

Die am Dienstag und Mittwoch dieser Woche veröffentlichten Zahlen des 2025 Digital Accessibility Index von AudioEye zeichnen ein beunruhigendes Bild: Durchschnittlich 297 Barrieren pro Webseite wurden bei der Analyse von über 15.000 Websites identifiziert. 2023 lag dieser Wert noch bei gerade einmal 37 Verstößen. Ein Anstieg um das Achtfache innerhalb von zwei Jahren.

Doch was steckt hinter dieser dramatischen Entwicklung? Ist das Internet wirklich so viel unzugänglicher geworden – oder haben wir vorher einfach nur weggeschaut?

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Die unsichtbare Epidemie der Ausgrenzung

Experten führen die Explosion der gemessenen Barrieren weniger auf eine tatsächliche Verschlechterung zurück, sondern auf deutlich präzisere Testverfahren. Moderne automatisierte Tools können mittlerweile Verstöße aufspüren, die früher nur menschlichen Prüfern auffielen. Das Ergebnis: ein schonungsloser Blick auf die Realität digitaler Exklusion.

Die Zahlen im Detail sprechen eine klare Sprache: 38 Prozent aller Bilder verfügen über keinen alternativen Text. Für blinde Menschen, die Screenreader nutzen, bleiben diese Inhalte schlicht unsichtbar. 80 Prozent der untersuchten Seiten enthalten mehrdeutige Links wie „hier klicken” – eine Navigation ohne Kontext wird damit zum Glücksspiel.

Besonders drastisch fällt die Bilanz im Einzelhandel aus. Retail-Websites weisen im Schnitt fast 350 Probleme pro Seite auf. Angesichts eines globalen Markts von Menschen mit Behinderungen, der auf geschätzte 11 Billionen Euro taxiert wird, gleicht diese Barrierenflut einer bewussten Geschäftsverweigerung.

„Vielen Unternehmen ist die Lücke in ihrer Barrierefreiheit gar nicht bewusst – bis sie genauer hinsehen”, warnt der Bericht. Veraltete Testtools hätten eine trügerische Sicherheit vermittelt, die nun brutal auf die Realität trifft.

Millionenklagen als Weckruf

Während die technische Kluft sichtbar wird, folgen die juristischen Konsequenzen auf dem Fuß. Diese Woche brachte gleich mehrere bedeutende Entwicklungen im US-Rechtsraum, die auch europäische Unternehmen aufhorchen lassen sollten.

Am Mittwoch wurde ein Vergleich über 3,5 Millionen Dollar (etwa 3,3 Millionen Euro) bekannt, den der Gesundheitsdienstleister Mindpath Health im Zusammenhang mit Datenschutz- und Sicherheitsmängeln schloss. Parallel dazu einigte sich die Baumarktkette Home Depot in einem Verfahren wegen unzugänglicher Kassensysteme für sehbehinderte Kunden. Die Frist für Entschädigungsansprüche läuft Anfang 2026 ab.

Was bedeutet das für den deutschen Markt? Die US-Klagewelle könnte nur der Vorgeschmack auf europäische Verhältnisse sein. Der EAA schafft erstmals eine einheitliche Rechtsgrundlage für Klagen in allen EU-Mitgliedstaaten – ein Eldorado für spezialisierte Anwaltskanzleien.

Vorreiter zeigen, wie es geht

Doch es gibt auch positive Signale. Der Cybersecurity-Anbieter Bitdefender veröffentlichte am Dienstag ein umfassendes Accessibility Statement, das explizit die Konformität mit dem EAA und den WCAG 2.1 Level AA-Standards bestätigt. Das Unternehmen detailliert darin seine Screenreader-freundliche Navigation und tastaturgesteuerte Formulare.

Könnte dies zum neuen Standard werden? Bitdefender setzt damit eine Messlatte für Software-Hersteller, die im Post-EAA-Umfeld operieren müssen. Die Veröffentlichung dürfte erst der Auftakt einer Welle ähnlicher Compliance-Signale sein, mit denen Konzerne ihre Rechtskonformität demonstrieren.

Öffentlicher Sektor geht voran

Parallel zu privatwirtschaftlichen Initiativen investieren Regierungen weltweit in barrierefreie Digitalisierung:

UNESCO unterzeichnete am Dienstag eine Partnerschaft mit dem lettischen Sprachtechnologie-Unternehmen Tilde. Ziel: Künstliche Intelligenz soll Sprachbarrieren in kleinen Inselstaaten abbauen und sicherstellen, dass digitaler Fortschritt keine sprachlichen Minderheiten zurücklässt.

In Pennsylvania kündigte Gouverneur Josh Shapiro am Mittwoch Investitionen in CODE PA an, das Digital-Erfahrungsbüro des Bundesstaats. Die Mittel sollen Online-Dienste für alle Bürger – einschließlich Menschen mit Behinderungen – vereinfachen.

Auch in Europa bewegt sich etwas: Der britische Fylde Council startete am 26. November ein neues digitales Abfallmanagementsystem. Die Plattform ermöglicht es Einwohnern, Dienste wie Müllabholung über ein einziges, barrierefreies Online-Konto zu verwalten – ein Beispiel dafür, wie Kommunalverwaltungen essenzielle Services inklusiv digitalisieren.

Die Lücke zwischen Gesetz und Wirklichkeit

Die Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse – Rekord-Fehlerquoten, millionenschwere Vergleiche, neue Regierungsinitiativen – markiert 2025 als Wendepunkt. Digitale Barrierefreiheit ist vom „Nice-to-have” zur geschäftskritischen Anforderung geworden.

Seit dem vollständigen Inkrafttreten des EAA im Juni 2025 befinden sich in der EU tätige Unternehmen in der Durchsetzungsphase. Die Bitdefender-Ankündigung ist vermutlich die erste von vielen „Compliance-Signalen”, mit denen Konzerne ihre Rechtskonformität belegen wollen. Doch die AudioEye-Daten zeigen: Trotz dieser Gesetze bleibt die tatsächliche Nutzererfahrung voller Hürden.

Die Diskrepanz zwischen juristischer Compliance (Häkchen setzen) und funktionaler Barrierefreiheit (nutzbare Erlebnisse) bleibt die zentrale Herausforderung der Branche. Wie viele Unternehmen haben lediglich automatisierte Tools durchlaufen lassen, ohne das Ergebnis wirklich zu prüfen?

Was bringt der 3. Dezember?

Der Blick richtet sich nun auf den kommenden Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember 2025. Ankündigungen der Vereinten Nationen und lokaler Organisationen von Australien bis Europa deuten darauf hin, dass das diesjährige Motto stark auf „Förderung behinderteninklusiver Gesellschaften” abzielen wird.

In der kommenden Woche dürften folgen:

Mehr Unternehmenszusagen: Eine Welle von Barrierefreiheitsverpflichtungen großer Tech-Konzerne zum IDPD.

Regulatorische Klarstellungen: Möglicherweise veröffentlichen EU-Regulierer Leitlinien zur EAA-Durchsetzung und zu Strafen ab 2026.

KI-Debatte: Verstärkte Diskussionen darüber, ob KI-Tools Barrierefreiheitsprobleme lösen – oder durch automatisierte, ungenaue Fixes neue schaffen.

Für Unternehmen ist die Botschaft dieser Woche unmissverständlich: Die Schonfrist ist vorbei. Mit immer leistungsfähigeren automatisierten Scannern und aktiveren Klageanwälten ist digitale Barrierefreiheit zur Grundvoraussetzung für Online-Geschäfte geworden. Wer jetzt nicht handelt, riskiert nicht nur Klagen – sondern verliert den Zugang zu Millionen zahlungskräftiger Kunden.

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